Hessischer Verkehrsspiegel

20 21 SERVICE | Hessischer Verkehrsspiegel 01/2023 A uf der Grundlage von Vorlage- fragen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat sich der EuGH mit benannter Frage in verschiede- nen Konstellationen befasst, sei es, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub der allgemeinen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegen kann oder der Anspruch für das Urlaubsjahr verfällt, in dessen Verlauf der Arbeitnehmer arbeitsunfähig bzw. vollständig erwerbsunfähig wurde. In seinen Urteilen betonte der EuGH erneut die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers. Entscheidend sei, ob der Arbeitgeber seinen Teil zum Verfall von Urlaubsansprüchen beigetragen habe. Grundlagen zum Urlaubsrecht Urlaub muss grundsätzlich im laufenden Ka- lenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs in das folgen- de Kalenderjahr ist nur in Ausnahmefällen möglich, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen (§ 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG). Beispiele hierfür sind termin- oder saisongebundene Aufträge oder die Erkran- kung des Arbeitnehmers zum Jahresende. Im Fall einer (ausnahmsweise) zulässigen Übertragung verfällt der Urlaub nicht am 31. Dezember des jeweiligen Urlaubsjahres, sondern erst am 31. März des Folgejahres (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG). Bis zu der im Folgenden dargestellten Kehrtwende im Urlaubsrecht durften Arbeit- geber von einem automatischen Verfall nach Ablauf dieser im Gesetz genannten Fristen ausgehen und konnten die Urlaubsrückstel- lungen nach Fristablauf ausbuchen. Heute ist Vorsicht geboten: Obwohl der Gesetzes- wortlaut einen automatischen Verfall von Urlaubsansprüchen nahelegt, tritt der Verfall von Urlaubsansprüchen nicht mehr ohne Zu- tun des Arbeitgebers ein. Urlaubsverfall nur bei Mitwir- kung des Arbeitgebers Ein Verfall von Urlaubsansprüchen findet nach der neueren Rechtsprechung des BAGs in Umsetzung von Entscheidungen des EuGHs und in einer richtlinienkonformen Auslegung von § 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässi- gen Übertragungszeitraums statt, wenn der Arbeitgeber zuvor konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge getragen hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage war, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Der Arbeitgeber muss – erforderlichen- falls förmlich – klar und rechtzeitig darüber informieren, dass der Urlaub am Ende des Bezugszeitraums oder eines Übertragungs- zeitraums verfallen wird, wenn er nicht genommen wird. Eine solche Information kann über E-Mail oder sonstige im Betrieb zur Information verwendete Kommuni- kationswege erfolgen. Grundsätzlich muss allerdings im Streitfall nachweisbar sein, dass die Information den Arbeitnehmer tatsächlich erreicht hat. Generell sollte der Hinweis so rechtzeitig erfolgen, dass den Arbeitnehmern bis zum Jahresende hinreichend Gelegenheit bleibt, ihren Urlaub zu nehmen. Missachtet der Arbeitgeber diese Mit- wirkungsobliegenheiten, verfällt der Urlaubs- anspruch nicht. Der Fall des EuGH Im streitgegenständlichen Fall war die Kläge- rin von 1996 bis 2017 als Steuerfachangestellte bei der Beklagten beschäftigt. Im Jahr 2018 klagte sie auf Abgeltung von 101 Urlaubs- tagen aus den Jahren 2013 bis 2017. Aufgrund des hohen Arbeitsanfalls hatte die Klägerin den ihr zustehenden Urlaub nicht vollständig in Anspruch nehmen können. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert Urlaub zu nehmen noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne. Gegen die Klage verteidigte sich die Beklagte u. a. mit der Einrede der Verjährung. Das BAG kam zu dem Zwi- schenergebnis, dass die Urlaubsansprüche der Klägerin nicht verfallen seien, weil die Be- klagte ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat. Ferner legte das BAG dem EuGH die Frage vor, ob das Unionsrecht die Ver- jährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist (3 Jahre gem. §§ 194, 195 BGB) trotz Verletzung der Mit- wirkungsobliegenheiten gestatte, durch die der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Nach Ansicht des EuGH hat der Arbeit- geber zwar ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanziel- le Vergütung für nicht genommenen be- zahlten Jahresurlaub konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden. Die- ses Interesse an Rechtssicherheit sei allerdings dann nicht mehr schützenswert, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hatte, den Urlaub tatsächlich wahrzunehmen. Ließe man zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Urlaubsansprüche berufen kann, obwohl er seine Mitwirkungs- obliegenheiten missachtete, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeit- gebers führt. Arbeitnehmer ordnungsgemäß unterrichten Die Entscheidung führt der betrieblichen Praxis eindringlich vor Augen, welches Ausmaß Forderungen der Arbeitnehmer im Urlaubsrecht annehmen können, wenn Arbeitgeber ihren Mitwirkungsobliegenhei- ten nicht nachkommen. Verletzen Arbeit- geber permanent ihre Mitwirkungsobliegen- heiten, können Urlaubsansprüche über Jahre kumulieren, ohne dass sie verfallen oder verjähren. Im laufenden Arbeitsverhältnis könnten die Arbeitnehmer die Gewährung dieser Urlaubsansprüche Jahre später fordern. Im Falle der Beendigung des Arbeitsverhält- nisses können hohe Urlaubsabgeltungszah- lungen drohen. Arbeitgeber sollten daher konkret prüfen, ob sie ihren Mitwirkungsobliegenheiten – in- haltlich zutreffend – nachkommen, und ihren Arbeitnehmern klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er nicht beantragt wird. Ferner sollten sie sie auffordern, ihren Urlaub zu nehmen. Urlaubsansprüche bei langzeit- erkrankten Arbeitnehmern Ein Sonderfall sind durchgehend arbeits- unfähig erkrankte Arbeitnehmer, für sie gilt eine besondere Verfallsfrist. Da sie während einer Krankheit ihren Urlaub nicht in An- spruch nehmen können, wird ihnen eine län- gere Zeit gewährt, um den Urlaub „nachzu- holen“. Um gleichzeitig zu verhindern, dass aufgrund von Krankheit jahrelang Urlaub Folgende Frage: Kann Urlaub noch verfallen? Allein der Text des Bundes- urlaubsgesetzes reicht häufig nicht zur Beantwortung aus. Vielmehr be- darf es daneben der Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), denn das Urlaubsrecht basiert auf einer europäischen Richtlinie (2003/88/EG). Jahresurlaub ade? Sebastian Gaubatz, Syndikusrechtsanwalt beim Fachverband Güterkraftverkehr und Logistik Hessen e. V., spezialisiert auf Arbeits- und Sozialrecht Fotos: Shutterstock/Irina Strelnikova

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